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Motivation

«Die Schallmauer wird durchbrochen»

Der deutsche Laufarzt Thomas Wessinghage glaubt, dass der Marathon-Weltrekord von Dennis Kimetto nicht lange bestehen wird. Der Berner Laufexperte Markus Ryffel traut einem Weissen zu, die Phalanx der Ostafrikaner zu durchbrechen.

Fachgespräch: Markus Ryffel (links) diskutiert mit Thomas Wessinghage. Bild: zvg/Lukas Widmer

Dennis Kimetto hat in Berlin den Marathon-Weltrekord um 26 Sekunden verbessert. 2:02:57 Stunden brauchte der Kenianer für die 42,195 Kilometer. War das eine ausserirdische Leistung?
Thomas Wessinghage: Ausserirdisch ist eine Formulierung, die vermuten lässt, dass es diese Leistung in absehbarer Zeit nicht wieder gibt. Ich glaube, dass dies nur ein kleiner Schritt gewesen ist, den Marathon-Weltrekord weiter zu verbessern. Für den Freizeitjogger ist eine solche Leistung ausserirdisch. Für Kimetto jedoch war dies nur eine herausragende Leistung, die andere motiviert, noch schneller zu laufen.

War Kimetto bei seinem Weltrekord «sauber»?
Wessinghage: Ich hoffe es. Solange nicht das Gegenteil nachgewiesen wird, ist Kimetto «sauber».
Markus Ryffel: Kimetto traue ich dies zu. Für ihn und den Laufsport hoffe ich es auch.

Gehen wir davon aus, dass Kimetto «sauber» war. Welches sind die Faktoren, um eine solche Leistung zu erbringen?
Wessinghage: Er muss in der Lage sein, 42-mal den Kilometer in einem so hohen Tempo zurückzulegen, wie er das in Berlin geschafft hat (im Durchschnitt 2:54 Minuten pro Kilometer, die Red.). Ausserirdisch fand ich, wie sich Kimetto nach 38 Kilometern von Favorit Emmanuel Mutai (er blieb in 2:03:13 ebenfalls unter dem alten Weltrekord, die Red.) absetzte. Kimetto legte diesen 38.Kilometer in 2:46 Minuten zurück. Das ist extrem schnell.

Wie meinen Sie das?
Wessinghage: 2:46 Minuten wären für einen 5000-Meter-Läufer vor zwei, drei Jahrzehnten eine passable Durchgangszeit gewesen. Dass dieses Tempo heute in einem Marathonlauf möglich ist, finde ich wirklich unglaublich.

Kimetto hatte in Berlin gesagt, dass er Weltrekord laufen wolle. Das ist untypisch für afrikanische Läufer. Sie gelten als bescheidene, wortkarge Menschen. Gehörte die Ankündigung zur Taktik?
Ryffel: Mir hat Kimettos Haltung gefallen. Meistens sprechen die Spitzenathleten vor einem Wettkampf von Wadenproblemen oder Erkältungen. Ein solch selbstbewusster Athlet, wie es Kimetto einer ist, tut der Leichtathletik gut. Als Beobachter stelle ich fest: In Kenia hat offensichtlich nicht nur die moderne Trainingslehre Einzug gehalten, sondern auch ein selbstbewusstes Auftreten der Athleten.

Kimetto sorgte für den bereits 5. Marathon-Weltrekord innerhalb von 7 Jahren. Wie erklären Sie sich diese Häufigkeit?
Wessinghage: Marathon ist zur attraktivsten Disziplin der Leichtathletik geworden. Der Marathon lockt die meisten Zuschauer an – an die Strecke und vor die Fernsehgeräte. Mitte des vergangenen Jahrhunderts waren die Marathonläufer Aussenseiter, die Leichtathletik fand im Stadion statt. Heute finden die attraktivsten Wettkämpfe in den Grossstädten statt.

Weshalb sind die ostafrikanischen Marathonläufer so stark?
Wessinghage: Sie haben eine hohe soziale Motivation. Ein einziger Marathonlauf genügt, und sie können sich vom Durchschnittsmenschen zum wohlhabenden Bürger ihres Landes aufschwingen. Das ist für mich der Hauptgrund, weshalb der Marathon-Weltrekord in so kurzer Zeit so oft verbessert worden ist.

Wird ein Mensch einen Marathon jemals unter zwei Stunden laufen?
Wessinghage: Ja, die Entwicklung des Weltrekords deutet darauf hin. In 10, 12 oder 15 Jahren wird die Zwei-Stunden-Schallmauer durchbrochen.

Läuft ein Weisser jemals Marathon-Weltrekord?
Wessinghage: Ausschliessen würde ich das nicht. Aber die Wahrscheinlichkeit erachte ich als klein. Wenn ich die aktuellen Bestenlisten konsultiere, sehe ich keinen Weissen, der nur annähernd in den Bereich des Weltrekords vorgestossen ist.
Ryffel: Auf den ersten Marathon von Galen Rupp (Olympia-Zweiter in London über 10’000 Meter, die Red.) freue ich mich sehr. Mit seiner 10’000-Meter-Bestzeit von 26:44 Minuten verfügt er über eine so gute Unterdistanzfähigkeit, dass ich ihm bei konsequenter Trainingsumstellung in drei, vier Jahren einen Marathon-Weltrekord zutraue.

Bei den Frauen hingegen hält die Britin Paula Radcliffe seit 11 Jahren den Weltrekord. Weshalb steht die Marke von 2:15:25 Stunden immer noch?
Ryffel: Die Frauen laufen erst seit 1984 an Olympischen Spielen Marathon. Deshalb ist die Entwicklung noch nicht so weit fortgeschritten. In Afrika steht immer noch der Mann im Mittelpunkt des Sporttreibens. Dass Afrikanerinnen dereinst an die Leistungen einer Paula Radcliffe anknüpfen können, halte ich aber für wahrscheinlich.
Wessinghage: Dieser Fakt hängt mit der Rolle der Sport treibenden Frau in Afrika zusammen. Es bedarf gesellschaftlicher Entwicklungen, um eine Attraktivität des Frauen-Marathons herbeizuführen. Auch im Tennissport gibt es keine international kompetitive Afrikanerin.

Sind diese Entwicklungen in Ostafrika im Gang?
Wessinghage: Ja, Ostafrika befindet sich im Wandel. Natürlich können nicht alle zivilisatorischen Entwicklungen, wie zum Beispiel die Emanzipation der Frauen und ihre Stellung in der Gesellschaft oder die Berechtigung der Frauen, auf höchstem Niveau Sport zu treiben, mit dem Umbruch Schritt halten. Es wird noch eine Weile dauern, bis diese Länder diesen Prozess abgeschlossen haben. Dann aber wird es bei den Frauen ähnlich zugehen wie jetzt bei den Männern, wo Läufer aus Kenia und Äthiopien dominieren.

Markus Ryffel, Sie halten nach wie vor den Landesrekord über 5000 Meter. So schnell, wie Sie an den Olympischen Spielen 1984 gelaufen sind (13:07,54 Minuten, die Red.), ist nach Ihnen kein Schweizer mehr gelaufen. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Ryffel: Seit meinem Rekord sind viele Sportarten dazugekommen, welche die Leichtathletik konkurrieren und Jugendliche abwerben. Triathlon als Beispiel war 1980 noch unbekannt. Grundlage für meinen Rekord war sicher meine Jugend. Dank meinem Fleischauslieferungsdienst mit dem Velo konnte ich mir über 6000 Ausdauerstunden antrainieren, welche mir dann zugute kamen. Heute verfügt ein Schweizer im Durchschnitt über etwa 1000 Ausdauerstunden.

Thomas Wessinghage, auch Sie halten einen Landesrekord. Seit 34 Jahren schafft es kein deutscher 1500-Meter-Läufer, Ihre Bestmarke (3:31,58 Minuten, die Red.) zu knacken. Weshalb?
Wessinghage: Die durchschnittliche Fitness der Jugendlichen in Deutschland hat in den letzten 25 Jahren extrem abgenommen. Nur noch ein Zehntel der 25-Jährigen hat kein Übergewicht. Das bedeutet, dass der Nachwuchs in den Laufdisziplinen kaum vorhanden ist. Es kommt etwas anderes dazu.

Sagen Sie es uns.
Wessinghage: Die Leichtathletik hat an Publikumsinteresse eingebüsst. Heute strahlen grosse Fernsehstationen kaum mehr Leichtathletik zur Primetime aus. Die Sportart hat es versäumt, sich publikumsgerecht an die moderne Zeit anzupassen. Beste Beispiele dafür, wie es funktionieren kann, sind Biathlon und Langlauf.

Wie wichtig ist das Material auf dem Weg zum Weltrekord?
Ryffel: Das Material ist sehr wichtig und noch nicht ausgeschöpft. Der Laufschuh ist neben dem Formel-1-Auto das besterforschte «Fortbewegungsmittel». Abebe Bikila stellte an den Olympischen Spielen 1960 in Rom in 2:15:16 Stunden eine Weltbestzeit im Marathon auf. Er lief barfuss.
Wessinghage: Das war eine ausserirdische Leistung! Bikila gebührt ebenso Ehre wie Kimetto.

Das Gespräch wurde von Thomas Wälti von der Berner Zeitung geführt und uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

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